1. I. 16

Die neue Bedienerin läßt mich gleich am ersten Tage im Stich! Ich wartete auf sie vergebens bis ¼9h. Wie ich im Laufe des Tages erfuhr, erschien sie um ½9h, u. als sie der Hausbesorger fragte, warum sie so spät komme, erwiderte sie, sie wäre schon eine halbe Stunde oben gewesen u. hätte an verschiedenen Türen geläutet. Daß diese Aussage eine Lüge ist, weiß ich freilich am besten, da ich mehreremale auf den Gang getreten u. nachgesehen habe, ob sie denn nicht komme. Aber keine Festung in der Welt ist so stark wie die Lüge einer niedrigen Person, die sich mindestens den subjektiven Glauben an die ihre Lüge nie u. nimmer nehmen lassen will. Notgedrungen appelliere ich an die Aushilfe der Hausbesorgerin. – Wir begeben uns sofort nach dem Frühstück auf die Suche nach verschiedenen Vermittlungsbüros, die wir leider wegen des Neujahrstages geschlossen finden. —

Hans Weisse erscheint um 10h; da aber meine Wohnung erst in Ordnung gebracht wurde, so machen wir einen Spaziergang bis 11h. Uebergebe ihm 2 Aufsätze: „N. Fr. Pr.“ u. „Frankfurter Ztg.“. —

Lie-Liechen konstatiert Blätter an den Sträuchern; somit behält sie völlig Recht damit, daß die Natur bei Erzeugung von Pflanzen sich lediglich an die Gesetze der Temperatur hält u. im übrigen unsere Kalendereinrichtung ignoriert. Damit würden nun die Pflanzen wohl ganz nahe auch an das Menschengeschlecht rücken, das seine Fortpflanzung ebenfalls unabhängig von den Jahreszeiten betreibt. —

— In „Wilhelm Meister“ bis zum VIII. Kap. gelesen. 1

*

© Transcription Marko Deisinger.

January 1, 1916.

The new maid leaves me in the lurch on the very first day! I waited for her in vain until 8:15. As I learned in the course of the day, she turned up at 8:30; and when the caretaker asked her why she came so late, she replied that she had been upstairs already for half an hour and had rung the bell at several doors. That this excuse is a lie is something that I, of course, know best of all, as I had gone into the corridor several times to see if she had come. But no fortress in the world is as strong as the lie of a person of lower rank, who will insist at all times on her subjective belief of his lie. I am forced to appeal to the assistance of the caretaker's wife. – After breakfast, we immediately embark on a search for various agencies, which we unfortunately find closed on account of New Year's Day. —

Hans Weisse appears at 10 o'clock; but since my apartment has first to be put in order, we take a walk until 11 o'clock. I give him two articles, from the Neue Freie Presse and the Frankfurter Zeitung . —

Lie-Liechen detects leaves on the shrubs; thus she is proved right that, in the production of plants, nature simply follows the laws of temperature and moreover ignores our orientation to the calendar. Thus the behavior of plants now closely follows that of human beings, whose procreation is carried out independently of the seasons. —

— Wilhelm Meister read as far as Chapter VIII. 1

*

© Translation William Drabkin.

1. I. 16

Die neue Bedienerin läßt mich gleich am ersten Tage im Stich! Ich wartete auf sie vergebens bis ¼9h. Wie ich im Laufe des Tages erfuhr, erschien sie um ½9h, u. als sie der Hausbesorger fragte, warum sie so spät komme, erwiderte sie, sie wäre schon eine halbe Stunde oben gewesen u. hätte an verschiedenen Türen geläutet. Daß diese Aussage eine Lüge ist, weiß ich freilich am besten, da ich mehreremale auf den Gang getreten u. nachgesehen habe, ob sie denn nicht komme. Aber keine Festung in der Welt ist so stark wie die Lüge einer niedrigen Person, die sich mindestens den subjektiven Glauben an die ihre Lüge nie u. nimmer nehmen lassen will. Notgedrungen appelliere ich an die Aushilfe der Hausbesorgerin. – Wir begeben uns sofort nach dem Frühstück auf die Suche nach verschiedenen Vermittlungsbüros, die wir leider wegen des Neujahrstages geschlossen finden. —

Hans Weisse erscheint um 10h; da aber meine Wohnung erst in Ordnung gebracht wurde, so machen wir einen Spaziergang bis 11h. Uebergebe ihm 2 Aufsätze: „N. Fr. Pr.“ u. „Frankfurter Ztg.“. —

Lie-Liechen konstatiert Blätter an den Sträuchern; somit behält sie völlig Recht damit, daß die Natur bei Erzeugung von Pflanzen sich lediglich an die Gesetze der Temperatur hält u. im übrigen unsere Kalendereinrichtung ignoriert. Damit würden nun die Pflanzen wohl ganz nahe auch an das Menschengeschlecht rücken, das seine Fortpflanzung ebenfalls unabhängig von den Jahreszeiten betreibt. —

— In „Wilhelm Meister“ bis zum VIII. Kap. gelesen. 1

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© Transcription Marko Deisinger.

January 1, 1916.

The new maid leaves me in the lurch on the very first day! I waited for her in vain until 8:15. As I learned in the course of the day, she turned up at 8:30; and when the caretaker asked her why she came so late, she replied that she had been upstairs already for half an hour and had rung the bell at several doors. That this excuse is a lie is something that I, of course, know best of all, as I had gone into the corridor several times to see if she had come. But no fortress in the world is as strong as the lie of a person of lower rank, who will insist at all times on her subjective belief of his lie. I am forced to appeal to the assistance of the caretaker's wife. – After breakfast, we immediately embark on a search for various agencies, which we unfortunately find closed on account of New Year's Day. —

Hans Weisse appears at 10 o'clock; but since my apartment has first to be put in order, we take a walk until 11 o'clock. I give him two articles, from the Neue Freie Presse and the Frankfurter Zeitung . —

Lie-Liechen detects leaves on the shrubs; thus she is proved right that, in the production of plants, nature simply follows the laws of temperature and moreover ignores our orientation to the calendar. Thus the behavior of plants now closely follows that of human beings, whose procreation is carried out independently of the seasons. —

— Wilhelm Meister read as far as Chapter VIII. 1

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), first published in 1795–96 (Berlin: Johann Friedrich Unger).