12. X. 15 Der Tag mit aller Herbstschönheit ausgestattet.

— Auf der Suche nach meinem Schirm, den ich gestern vergessen habe, frage ich auch im Caféhaus an. Die alte Mutter des Cafetiers wirft einen Blick auf einige zurückgelassene Requisiten, die gerade in der Höhe ihrer Augen hängen u. erklärt, der Schirm wäre nicht da. Die Tochter tritt hinzu, erkundigt sich nach meinem Begehren, bückt sich in die Tiefe nach einem Winkel, wo auch noch andere Gegenstände aufbewahrt werden, u. der erste[,] den sie ans Licht fördert, ist mein Schirm. Die Tragödie der Menschheit im Mikrokosmos: Trägheit, falsche Auskunft, Zufälle treten zu wirklichen Kausalitäten, vermengen sich mit diesem diesen zu einem unentwirrbaren Chaos.

*

Bei Rothberger Winterrock um 180 Kr. bestellt. —

*

Der Kaiser statuiert ein neues Wappen für Oesterreich. 1

*

Hertzka sendet Fahnen 29–42. — Lie-Liechen nimmt seit langem die erste Stunde – Gott sei Dank. — Wilhelm Meister, VII., 2–4. 2

Lie-Liechen meint, die Kaufleute täten doch auch jetzt nichts anderes, als im Frieden u. dies sei eigentlich der Grund, weshalb sie die plötzlichen Vorwürfe der Konsumenten gar nicht begreifen. —

— Immer häufiger zeigt es sich, wie die Kaufleute es schon ganz vortrefflich verstehen, {10} sich das jüngste Stichwort der richterlichen Praxis anzueignen, nämlich den Begriff „Luxus“, mit dem sie nun all ihre Preistreiberei entschuldigen.

*

Wurde bis vor kurzem die wirtschaftliche u. sonstige kulturelle Rückständigkeit Englands im Verlaufe des Krieges endlich an den Tag gebracht, so erweist sich noch überraschender die Niederlage der englischen Diplomatie auf dem Balkan als eine wahre Sensation. Freilich, der Kluge konnte nie annehmen, daß der engl. Krämer Talent ausgerechnet in der Diplomatie zeigen könnte, da dies zusehr zu sehr im Widerspruch gegen die allgemeine Unbegabtheit des Krämers stünde; dem Dummkopf aber imponierte englischer Reichtum, u. schon des Reichtums wegen ja auch die Diplomatie. Aber daran wird sich auch nach dem Kriege nichts ändern; denn der Dummkopf wird nach wie vor nicht begreifen können, daß mit dem Krämerberuf Tüchtigkeit ja niemals verbunden sein kann. Und nur der Kluge wird wieder bestätigt finden, was er ja ohnehin schon heute weiß. Der allgemeinen Erkenntnis des Menschengeschlechtes wird selbst der völlige Untergang des Engländers nicht fördernd zugute kommen. Der Trottelmensch wird einfach wieder an ein böses Schicksal glauben, leider aber nie die wahre Ursache erkennen.

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© Transcription Marko Deisinger.

October 12, 1915. The day outfitted in full autumnal beauty.

— Searching for my umbrella, which I forgot yesterday, I also enquire at the coffee house. The elderly mother of the proprietor casts her eyes over a few items that have been left behind and hang at the same height as her eyes; she says that the umbrella is not there. Her daughter comes in, asks about my concerns, stoops down in a corner where other items are kept, and the first thing that she holds up to the light is my umbrella. The tragedy of mankind in microcosm: laziness, false information, chance happenings lead to real causations, combining with these to form an inextricable chaos.

*

At Rothberger's, a winter coat ordered for 180 Kronen. —

*

The emperor orders a new coat-of-arms for Austria. 1

*

Hertzka sends galley-proofs 29–42. — Lie-Liechen has her first lesson in a long time – thank goodness. — Wilhelm Meister, book VII, chapters 2–4. 2

Lie-Liechen says that business people are behaving now no differently than in peacetime; and this is actually the reason why she cannot at all understand the sudden criticisms on the part of consumers. —

— One can see with increasing frequency how business people are already capable {10} of appropriating the latest catchphrase – namely, the concept of "luxury" – with which they can now justify all of their profiteering.

*

If until recently England's financial and otherwise cultural backwardness finally brought to light in the course of the war, then the failure of English diplomacy in the Balkans proves even more astonishing than a real sensation. Admittedly, an intelligent person could never assume that the English shopkeeper could show a talent for diplomacy, of all things, for this would stand too much in contradiction to the general ungiftedness of shopkeepers; but stupid people are impressed by English wealth, and also by diplomacy on account of that very wealth. But nothing of this will be changed even after the war; for the stupid person will not ever be capable of understanding that virtue can never be connected with shopkeeping. And only the intelligent person will again find confirmed that which he already knows now: that even the complete decline of the English will be of benefit to the general enlightenment of the human race. Fools will simply believe once again in an unhappy fate; they will never, unfortunately, recognize the true cause.

*

© Translation William Drabkin.

12. X. 15 Der Tag mit aller Herbstschönheit ausgestattet.

— Auf der Suche nach meinem Schirm, den ich gestern vergessen habe, frage ich auch im Caféhaus an. Die alte Mutter des Cafetiers wirft einen Blick auf einige zurückgelassene Requisiten, die gerade in der Höhe ihrer Augen hängen u. erklärt, der Schirm wäre nicht da. Die Tochter tritt hinzu, erkundigt sich nach meinem Begehren, bückt sich in die Tiefe nach einem Winkel, wo auch noch andere Gegenstände aufbewahrt werden, u. der erste[,] den sie ans Licht fördert, ist mein Schirm. Die Tragödie der Menschheit im Mikrokosmos: Trägheit, falsche Auskunft, Zufälle treten zu wirklichen Kausalitäten, vermengen sich mit diesem diesen zu einem unentwirrbaren Chaos.

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Bei Rothberger Winterrock um 180 Kr. bestellt. —

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Der Kaiser statuiert ein neues Wappen für Oesterreich. 1

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Hertzka sendet Fahnen 29–42. — Lie-Liechen nimmt seit langem die erste Stunde – Gott sei Dank. — Wilhelm Meister, VII., 2–4. 2

Lie-Liechen meint, die Kaufleute täten doch auch jetzt nichts anderes, als im Frieden u. dies sei eigentlich der Grund, weshalb sie die plötzlichen Vorwürfe der Konsumenten gar nicht begreifen. —

— Immer häufiger zeigt es sich, wie die Kaufleute es schon ganz vortrefflich verstehen, {10} sich das jüngste Stichwort der richterlichen Praxis anzueignen, nämlich den Begriff „Luxus“, mit dem sie nun all ihre Preistreiberei entschuldigen.

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Wurde bis vor kurzem die wirtschaftliche u. sonstige kulturelle Rückständigkeit Englands im Verlaufe des Krieges endlich an den Tag gebracht, so erweist sich noch überraschender die Niederlage der englischen Diplomatie auf dem Balkan als eine wahre Sensation. Freilich, der Kluge konnte nie annehmen, daß der engl. Krämer Talent ausgerechnet in der Diplomatie zeigen könnte, da dies zusehr zu sehr im Widerspruch gegen die allgemeine Unbegabtheit des Krämers stünde; dem Dummkopf aber imponierte englischer Reichtum, u. schon des Reichtums wegen ja auch die Diplomatie. Aber daran wird sich auch nach dem Kriege nichts ändern; denn der Dummkopf wird nach wie vor nicht begreifen können, daß mit dem Krämerberuf Tüchtigkeit ja niemals verbunden sein kann. Und nur der Kluge wird wieder bestätigt finden, was er ja ohnehin schon heute weiß. Der allgemeinen Erkenntnis des Menschengeschlechtes wird selbst der völlige Untergang des Engländers nicht fördernd zugute kommen. Der Trottelmensch wird einfach wieder an ein böses Schicksal glauben, leider aber nie die wahre Ursache erkennen.

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© Transcription Marko Deisinger.

October 12, 1915. The day outfitted in full autumnal beauty.

— Searching for my umbrella, which I forgot yesterday, I also enquire at the coffee house. The elderly mother of the proprietor casts her eyes over a few items that have been left behind and hang at the same height as her eyes; she says that the umbrella is not there. Her daughter comes in, asks about my concerns, stoops down in a corner where other items are kept, and the first thing that she holds up to the light is my umbrella. The tragedy of mankind in microcosm: laziness, false information, chance happenings lead to real causations, combining with these to form an inextricable chaos.

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At Rothberger's, a winter coat ordered for 180 Kronen. —

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The emperor orders a new coat-of-arms for Austria. 1

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Hertzka sends galley-proofs 29–42. — Lie-Liechen has her first lesson in a long time – thank goodness. — Wilhelm Meister, book VII, chapters 2–4. 2

Lie-Liechen says that business people are behaving now no differently than in peacetime; and this is actually the reason why she cannot at all understand the sudden criticisms on the part of consumers. —

— One can see with increasing frequency how business people are already capable {10} of appropriating the latest catchphrase – namely, the concept of "luxury" – with which they can now justify all of their profiteering.

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If until recently England's financial and otherwise cultural backwardness finally brought to light in the course of the war, then the failure of English diplomacy in the Balkans proves even more astonishing than a real sensation. Admittedly, an intelligent person could never assume that the English shopkeeper could show a talent for diplomacy, of all things, for this would stand too much in contradiction to the general ungiftedness of shopkeepers; but stupid people are impressed by English wealth, and also by diplomacy on account of that very wealth. But nothing of this will be changed even after the war; for the stupid person will not ever be capable of understanding that virtue can never be connected with shopkeeping. And only the intelligent person will again find confirmed that which he already knows now: that even the complete decline of the English will be of benefit to the general enlightenment of the human race. Fools will simply believe once again in an unhappy fate; they will never, unfortunately, recognize the true cause.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Das neue Wappen und das alte Reich, die neue Fahne und das alte Heer," Neue Freie Presse, No. 18370, October 12, 1915, morning edition, p. 1.

2 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), first published in 1795–96 (Berlin: Johann Friedrich Unger).